In Deutschland ist nach der nuklearen Katastrophe in Japan der Atomausstieg in aller Munde. Doch wie sieht es auf der anderen Rheinseite aus? Reden sich die Menschen dort ebenso die Köpfe heiß oder stehen alle Franzosen nach wie vor hinter der Atompolitik?
ELSASS. Derzeit betreibt der französische Energiekonzern EDF 19 Atomkraftwerke mit insgesamt 58 Reaktoren. 80 Prozent des französischen Energiebedarfs werden mit Atomkraft gedeckt. Soll das auch in Zukunft so bleiben? BZ-Mitarbeiterin Jill Köppe hat sich umgehört.
Pfarrerin Claudia Schulz (Colmar) ist zunächst einmal fassungslos über die Reaktion vieler Franzosen. Die Deutsche lebt seit 20 Jahren in Frankreich und hat seit dem Wochenende mit vielen Menschen über die Ereignisse in Japan gesprochen. "Viele Franzosen empfinden es geradezu als schamlos, die humanitäre Katastrophe zu nutzen, um hier in Europa Politik gegen Atomkraft zu machen. Sie tun nach wie vor, als wäre Atomenergie in Frankreich sicher und sehen keinen Grund darin, japanische Verhältnisse auf Frankreich zu übertragen. Rückschlüsse auf die französische Energiepolitik halten sie leider für völlig fehl am Platz."
Gérard Hug, Präsident des ComCom Pays de Brisach (Gemeindezweckverbandes Breisacher Land), warnt davor, in Anbetracht der Katastrophe in Japan voreilig zu reagieren. Er hält es zwar für sinnvoll, erneuerbare Energien stärker zu fördern, zweifelt allerdings "ob es in Zeiten, in denen der Strombedarf höher ist als je zuvor, überhaupt zu schaffen sein kann, die Nuklearenergie mit anderen alternativen Energien zu kompensieren". "Ich bin mir auch nicht sicher, ob die französische Bevölkerung steigende Strompreise in Kauf nehmen will, um stärker auf erneuerbare Energien zu setzen". Er unterstreicht die Unabhängigkeit Frankreichs in Fragen der Energiegewinnung als positive Seite der Nuklearpolitik und hält die Risiken in Frankreich und Europa zumindest für kontrollierbar.
Laurent Schaeffer, Chemiker aus Durrenentzen, betont ebenfalls, dass es darum gehen müsse, die Gefahren zu minimieren. "Frankreich ist einen anderen Weg gegangen als Deutschland und hat statt auf Kohle und Gas auf Atomkraft gesetzt. Derzeit gibt es keine erneuerbaren Energien, die den Energiebedarf in der gleichen Höhe und mit der gleichen Zuverlässigkeit decken können." Für ihn geht es um die Frage der Balance zwischen dem, was man als energietechnisch erstrebenswert hält und dem, was man der Bevölkerung als Risiken zumuten kann.
Genau diese Risiken aber hält Huguette Rother, Lokaljournalistin der Dernières Nouvelles d’ Alsace, aus Artzenheim für zu hoch, als dass man sie der Bevölkerung vor allem in der von Erdbeben bedrohten elsässischen Rheinebene aufbürden kann. Bereits 1977 hat sie hochschwanger an einer Demonstration gegen Fessenheim teilgenommen und sich damals auch gegen die Implantierung der Industriezone entlang des Rheins in Marckolsheim eingesetzt. Ein Umdenken in Fragen der Energiepolitik hält sie für überfällig.
Eric Scheer, Bürgermeister von Kunheim, glaubt allerdings, dass Frankreich noch lange nicht bereit ist für einen Atomausstieg. "Viel zu lange haben unsere Regierungen auf Atomkraft als alternativlose Energiequelle gesetzt. Wir haben im Vergleich zu Deutschland und anderen Ländern einen enormen Nachholbedarf, was erneuerbare Energien betrifft." Dazu hält er es für sehr problematisch, dass das Thema der nuklearen Abfälle in Frankreich so gut wie gar nicht diskutiert und vor allem selbst nach 50 Jahren Nutzung von Kernenergie noch immer nicht gelöst ist.
Eric Straumann, der konservative Abgeordnete der französischen Nationalversammlung, Generalrat des Kantons Andolsheim und Bürgermeister von Houssen, geht davon aus, dass auch die französische Regierung in Anbetracht der Ereignisse in Japan ihre Energiepolitik nun überdenken wird. "Es darf jetzt nicht darum gehen, voreilige Schlüsse zu ziehen oder Wahlkampf zu betreiben. Wir müssen aber entscheiden, welchen Weg wir in Zukunft gehen wollen." Hierbei betont er, dass es in Frankreich im Gegensatz zu Deutschland seit Jahren einen Atomkonsens quer durch alle etablierten Parteien gibt. Der Abgeordnete hat am Dienstag umgehend auf einen Pressebericht in der Tageszeitung Dernières Nouvelles d’ Alsace reagiert. Unter Berufung auf ein Gutachten der französischen Atomaufsichtsbehörde aus dem Jahr 2000 wird dort berichtet, dass bestimmte Funktionen, die die Kühlung des Reaktors in Fessenheim sicherstellen sollen, im Falle eines Erdbebens nicht gewährleistet seien. Straumann hat daraufhin eine Anfrage an die zuständige Umweltministerin gestellt und wartet nun auf Stellungnahme aus Paris.
Diese angeblichen Sicherheitsmängel scheinen die Bürgermeisterin von Fessenheim, Fabienne Stich, jedenfalls auch jetzt nicht weiter zu beunruhigen. Sie wird in der Tageszeitung mit den Worten zitiert, dass das Atomkraftwerk seit 30 Jahren Teil des Lebens der Fessenheimer Bevölkerung sei und für viele auch ein sicherer Arbeitsplatz. Sie habe nicht den Eindruck, dass in Anbetracht der Lage in Japan die Bürger vor Ort beunruhigt seien.
Hohe Wogen auf der einen, leises Plätschern auf der anderen Rheinseite. In diesen Tagen zeigt sich, dass der Rein in manchen Fragen nicht nur zwei Länder, sondern ganze Welten zu trennen scheint.