Es ist, als hätte es die Katastrophe von Fukushima nie gegeben, als seien nicht weltweit Zweifel am Segen der Kernkraft aufgekommen. Frankreichs Atomindustrie ist groß im Geschäft. Der neue Druckwasserreaktor EPR hat sich zum Verkaufsschlager entwickelt. Der französische Stromriese EDF hat den Auftrag erhalten, in Großbritannien zwei Atommeiler des Typs zu bauen, dessen doppelter Betonmantel einen Flugzeugabsturz überstehen soll. Es winkt ein Nettogewinn von zwei Milliarden Euro. Der französische Atomkonzern Areva vermeldet ebenfalls spektakuläre Erfolge. Mit dem japanischen Branchenführer Mitsubishi Heavy Industries haben die Franzosen den erdbebensicheren Reaktor Atmea entwickelt. Die Türkei will ihn kaufen.
Im eigenen Land scheint für die Atomindustrie ebenfalls alles wieder im Lot. 19 Kernkraftwerke mit 58 Reaktoren decken 75 Prozent des Strombedarfs. In der Heimat Bequerels und des Ehepaares Curie, den Entdeckern der Radioaktivität, hat der Mythos der Atomkraft die auf Fukushima folgenden Erschütterungen weitgehend unbeschadet überlebt. Sie steht für nationale Stärke und Unabhängigkeit. Dank der einst von General de Gaulle getroffenen und von sämtlichen Nachfolgern im Elysée-Palast gutgeheißenen Entscheidung für die Kernenergie erfreut sich Frankreich einer auf atomarer Abschreckung beruhenden militärischen Sicherheit und einer von Öl- und Gasimporten weitgehend unabhängigen Energieversorgung – das war, das ist das Credo.
Gewiss, nach dem Reaktorunglück von Fukushima musste die Atomindustrie Rückschläge einstecken. Deutschland beschloss, aus der Kernkraft auszusteigen. Länder wie die Schweiz, Italien und die USA stornierten Projekte. François Hollande, damals noch nicht Staatschef, sondern Präsidentschaftskandidat, versprach, den Anteil der Atomenergie bis zum Jahr 2025 auf 50 Prozent zu senken. Auch kündigte der Sozialist an, den ältesten Atommeiler des Landes, das Kernkraftwerk Fessenheim, bis Ende 2016 stillzulegen. Doch das Ziel, die Abhängigkeit von der Atomkraft zu verringern, scheint auf der Prioritätenliste des Präsidenten angesichts der Wirtschaftskrise weit nach unten gerutscht zu sein. Der Erfolg der Atomindustrie, die 125 000 Menschen Arbeit gibt, ist ein Lichtblick im wirtschaftlichen Dunkel. Sie auszubremsen, dazu rufen zurzeit nicht einmal Frankreichs Grüne auf.
Die Bevölkerung, die drei Monate nach Fukushima zu 60 Prozent einen Ausstieg aus der Kernenergie befürwortet hatte, plädiert zwar zu 53 Prozent noch immer für das Prinzip des Umdenkens. Ganz oben auf der Prioritätenliste stehen für die Franzosen aber niedrige Strompreise. Sicherheit und Umweltfreundlichkeit der Energiegewinnung rangieren auf den Plätzen zwei und drei. Was die Stilllegung des Akw Fessenheim betrifft, so müssten die Behörden einen beeindruckenden Endspurt hinlegen, soll das Wahlversprechen eingelöst werden, bevor 2017 womöglich ein anderer Präsident andere Wege weist. EDF hat Pläne vorgelegt, wie die Lebensdauer altersschwacher Reaktoren verlängert werden könnte. Der Konzern gedenkt 55 Milliarden Euro in den Erhalt der alten Meiler zu investieren. Dies würde den Strompreis verteuern. Mit Produktionskosten von 54 Euro die Megawattstunde wäre er aber noch immer vergleichsweise günstig.
Hinzu kommt, dass Deutschlands Ausstieg aus der Atomenergie nicht eben zur Nachahmung anregt. Der Rückgriff auf fossile Brennstoffe, der damit einhergehende Ausstoß klimaschädlicher Treibhausgase, steigende Strompreise – den Franzosen scheint das nicht vorbildlich. Nach Fukushima hatten Frankreichs Grüne und ihnen nahestehende Verbände haben 2011 die Chance beschworen, in Frankreich einen Bewusstseinswandel herbeizuführen. Wenn es die Chance denn je gegeben hat, dann ist sie vertan.