Zehntausende Atomkraftgegner marschierten rund um das Kanzleramt in Berlin. Die Demonstration war friedlich, bunt und größer als erwartet. Generationen von Protestierern fanden zusammen.
Dann setzen sie sich plötzlich hin - und auf den wichtigsten Straßen im Berliner Regierungsviertel geht es eine Viertelstunde lang weder vor noch zurück. Auf der Friedrichstraße packen Trommelgruppen ihre Instrumente aus, daneben klopfen Demonstranten auf schwarz-gelbe Atommüllfässer. Hinter dem Reichstag skandieren sie "Abschalten, abschalten", und auf der Brücke am Regierungsufer wummert Techno aus den Boxen auf einem LKW. Unten auf der Spree kreuzt neben dem Polizeiboot ein Schiff mit dem Banner "Pro Atomausstieg".
Mehrere Zehntausend Menschen haben sich am Samstag in der Hauptstadt zu einer Großdemonstration unter dem Motto: "Atomkraft: Schluss jetzt" versammelt. Die Veranstalter, ein Bündnis aus sechs Organisationen, sprachen von 100.000 Teilnehmern und der größten Anti-Atom-Veranstaltung, die es je in Berlin gegeben habe.Nach ersten Angaben der Polizei waren "deutlich mehr als 30.000" unterwegs.
Die Aktion richtet sich gegen die Energiepolitik der schwarz-gelben Regierung und längere Laufzeiten für die 17 Atomkraftwerke in Deutschland. Die geplante Auftakt- und Abschlusskundgebung vor dem Reichstag hatten die Berliner Behörden untersagt. Die zwölf Meter hohe Bühne steht deswegen vor dem Berliner Hauptbahnhof.
Wenige hundert Meter vom Kanzleramt entfernt, wo sich die Regierung vor zwei Wochen auf Laufzeitverlängerungen von acht bis 14 Jahren verständigt hat, treffen sich Menschen aller Altersgruppen und aus ganz Deutschland. Drei Sonderzüge und mehr als 150 Busse waren angemeldet.
Jan Siebert etwa ist morgens aus Dortmund gekommen. Der 24-Jährige steckt in einem gelben Fass mit radiaktivem Warnzeichen, darunter die Aufschrift: "Keiner will mich". So läuft er vor dem Hauptbahnhof auf und ab. Bis um 13 Uhr, dann kann er sich nicht mehr bewegen. Der Platz ist überfüllt und Siebert eingezwängt zwischen seinen Mitstreitern.
Hunderte gelbe Fahnen mit der roten Sonne, dem aus den 80er Jahren bekannten Zeichen der Kernkraftgegner, wehen im Wind, dazwischen die Flaggen mit den Logos von Greenpeace, Attac und den Oppositionsparteien, die die Aktion unterstützten. SPD-Chef Sigmar Gabriel und seine Parteikollegen Andrea Nahles und Wolfgang Thierse mischen sich ebenso unter die Protestierenden wie Claudia Roth, Jürgen Trittin und Renate Künast von den Grünen. Von der Linkspartei kommen Gregor Gysi und Gesine Lötzsch.
Frau Merkel habe unterschätzt, "dass jetzt wieder ein gesellschaftlicher Großkonflikt ausbricht, den wir bereits befriedet hatten", sagt Gabriel. Grünen-Fraktionschef Trittin spricht von einem "schmutzigen Deal zu Gunsten der AKW-Betreiber". Gysi sagt: "Es gibt in Deutschland Bevölkerungsgruppen, mit denen man gar nicht spricht, aber mit gewissen reichen Schichten regelt das Frau Merkel direkt."
CDU-Generalsekretär Hermann Gröhe indes kritisiert die Opposition in einer Mitteilung: "Untergehakt mit der Linkspartei, versuchen Gabriel, Trittin und Co. ihre massiven Versäumnisse vergessen zu machen", so Gröhe. Rot-Grün sei seinerzeit ohne taugliches Konzept in den Ausstieg aus der Kernkraft gerannt.
Um 14 Uhr setzen sich die Demonstranten in Bewegung, hinüber ins Regierungsviertel, angeführt von fünf Traktoren aus dem Wendland. Sie sollen Vorboten der Proteste sein, die in Gorleben und Umgebung geplant sind, wenn im November dort der nächste Castor-Transport anrollt. Die Demonstranten tragen Schilder mit Aufschriften wie "Wir wählen die Atomkraft", auf denen Angela Merkel neben der Comicfigur Mister Burns zu sehen ist, dem Betreiber des Kernkraftwerks in der TV-Serie Simpsons.
Andere halten gelbe Ortsschilder in die Höhe, auf denen der Name Gorleben durchgestrichen ist - oder auch der Schriftzug "Stuttgart 21". Nicht jeder ist wegen der Energiepolitik hier.
Es dauert mehr als zwei Stunden, bis sich der Platz geleert hat. Rentner marschieren neben Jugendlichen, Männer und Frauen mit langen Dreadlocks neben Dreißigjährigen, die noch den Latte Macchiato im Pappbecher vom morgendlichen Frühstück in Berlin Mitte in der Hand halten. "Es ist eine schöne, große, bunte und lustige Demonstration. Es sind unterschiedlichste gesellschaftliche Gruppen da", sagt Uwe Hiksch von den Naturfreunden Deutschland. Als es kurz zu regnen beginnt, schallt es von der Bühne: "Wir wollen alles: Sonne, Wind, Wasser, nur keinen Atomstrom." Eine Brücke über die Spree schließt die Polizei vorübergehend wegen Überfüllung. Die Veranstaltung verlauft friedlich.
Die Demonstranten ziehen um den Reichstag und das Bundeskanzleramt, zur Abschlusskundgebung kehren sie zurück vor den Hauptbahnhof. Sie türmen gelb bemalte Konservendosen mit der Aufschrift "Eine Million Jahre Strahlung" zu einem symbolischen Berg Atommüll auf. "Wir haben das Regierungsviertel nicht nur wie geplant umzingelt, wir haben es geflutet", sagt Jochen Stay von der Initiative Ausgestrahlt und kündigt weitere Proteste an. Die Renaissance der Anti-Atom-Bewegung werde fortgesetzt.
Bereits im September 2009 waren in Berlin 40.000 Menschen für einen Atomausstieg auf die Straße gegangen. Im April hatten mehr als 100.000 Demonstranten eine 120 Kilometer lange Menschenkette zwischen Krümmel und Brunsbüttel gebildet.
Fabian Heckenberger, Berlin