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11-03-14
Rubrik: Pressebericht, Fessenheim, Anti-Atom
Die Angst vor der Kernschmelze

Unter den Demonstranten, die entlang des Rheins gegen Atomkraft protestierten, war auch ein Japaner, der schreckliches berichtete.


Am Sonntag demonstrierten von Basel bis nach Straßburg tausende Menschen für die Abschaltung des Atomkraftwerks in Fessenheim. Viele Franzosen kritisierten dabei ihren Staatschef. Foto: Rainer Ruther

Hier der Link zum Originalbericht: http://badische-zeitung.de/kreis-breisgau-hochschwarzwald/die-angst-vor-der-kernschmelze--81724611.html

FESSENHEIM. Im Bistro "Chez Valerie" herrscht die normale Sonntagmorgen-Tristesse. Ein paar alte Männer am Kneipentresen schütten sich ihr drittes Bier hinter die Binde, andere setzen beim PMU, der Wette auf Traber und Galopper, wie immer aufs falsche Pferd. Reden tut hier so gut wie niemand, besonders nicht über die Demonstration, die in ein paar Stunden vor dem Haupttor des Atomkraftwerks stattfinden soll – nicht mal zwei Kilometer Luftlinie von ihrem Tresen in der Rue de Bâle, der Hauptstraße von Fessenheim, entfernt.
"Nous, Monsieur, on n’a pas peur", sagt ein etwas redseligerer Kneipengast vor der Tür – hier in Fessenheim habe niemand Angst vor dem Werk und einer eventuellen Katastrophe, die sich dort quasi in ihren Vorgärten abspielen könnte. Die "centrale" sei eine sichere Sache seit über 40 Jahren, und wenn’s nach ihm ginge, könnte es noch 40 Jahre so weitergehen.

Andere sind da ganz anderer Meinung, und die wollen sie heute kundtun auf einer Veranstaltung, die einen ganz weiten Bogen schlägt: von Fessenheim nach Fukushima. Die japanische Stadt hat sich vor genau drei Jahren eingereiht in die Aufzählung der Orte, die für nukleare Katastrophen stehen: Three Mile Island, Tschernobyl, Fukushima. Und damit nicht auch Fessenheim in dieser Liste vorkommt, wollen sie heute ein Zeichen setzen: auf den Rheinbrücken zwischen Straßburg und Basel und mit einer Großkundgebung vor dem Haupttor des AKW Fessenheim.

Immer dabei: der französische Präsident François Hollande. Michel, der extra aus Belfort angereist ist, hat eine Frage an ihn, und die trägt er auf einem Plakat mit sich herum: "Serez-vous le président de la catastrophe nucléaire? Werden Sie der Präsident der nuklearen Katastrophe sein?" Im Prinzip hat der Präsident schon geantwortet: Das älteste AKW Frankreichs soll bis 2016 abgeschaltet werden, so lautet sein Versprechen. Doch Michel und viele andere glauben ihm nicht. "Es gibt noch kein Gesetz, es gibt noch nicht einmal eine Vorstellung, wie man das erreichen will. Ein AKW kann man nicht abschalten wie einen Fernseher", sagt er.

Das Summen von Milliarden Fliegen ist das einzige Geräusch.

Wie ein Echo skandieren die Demonstranten auf der Brücke beim Wasserkraftwerk Fessenheim – auf deutsch "Abschalten jetzt"–, einen der griffigeren Slogans, die sich die Organisatoren ausgedacht haben. Nach einer Tour über die Brücke hin und zurück macht der Protestmarsch erstmal Pause. Man warte noch auf die Teilnehmer von anderen Brücken-Demos, wird über Lautsprecher verkündet. Zeit und Gelegenheit, einen ganz besonderen Demonstranten zu treffen: Nanoto Matsumura. Er strahlt nicht nur, weil er aus Tomioka stammt, einem Dorf nur zwölf Kilometer von den Fukushima-Reaktoren entfernt; er freut sich besonders über die Zahl der Menschen, die an diesem schönen Sonntagnachmittag gekommen sind, um ihre Solidarität auch mit den vielen betroffenen Menschen in Japan auszudrücken. Nanoto Matsumura ist 54 Jahre; zusammen mit seiner alten Mutter ist er in seinem Haus geblieben, als die Order kam, sein Dorf zu evakuieren. "Wie konnten wir weggehen?", fragt er. "Wir haben Kühe, das ist unsere Heimat. Wir sind geblieben." Er hat immer einen Geigerzähler bei sich – der hat aber in der Umgebung von Fessenheim kaum ausgeschlagen. "In der Nähe meines Dorfes piepst der wie verrückt", so berichtet er. "Da steht ein Messgerät, das uns die Belastung zeigt. Ein Millisievert pro Jahr ist normal; 20 Millisievert pro Jahr war die Grenze für eine Evakuierung – das beträfe ein sehr großes Gebiet. Und was macht die Regierung? Sie rechnet die Zahl der Verstrahlten künstlich klein – man halte sich ja die Hälfte der Zeit sowieso im Haus auf."

Er schildert bedrückend, wie das einzige Geräusch in dem stillen Dorf das Summen von Milliarden von Fliegen sei, die sich über die Tierkadaver hermachten. Im Elsass will er einfach nur berichten, was er täglich erlebt – wer ihm zuhört, den packt das Grauen. Denn in der dichtbesiedelten Zone rund um das AKW Fessenheim wären eine Million Menschen betroffen – und damit weitaus mehr als im dünn besiedelten Bereich um Fukushima.

Gegen 16 Uhr hat der Zug das Haupttor des AKW erreicht – argwöhnisch beäugt von Polizisten vor und hinter dem Zaun. Die Veranstalter freuen sich über 5000 bis 7000 Teilnehmer an den Brückenaktionen, die Ordnungskräfte wollen 3500 Demonstranten gezählt haben; die Wahrheit liegt sicher irgendwo dazwischen. In Fessenheim stehen, liegen und sitzen knapp 2000 Menschen in der Sonne vor dem Tor, und es sind deutlich mehr Franzosen als sonst dabei.

Bernard Laponche wundert das nicht. Fessenheim sei nicht nur eine politische Frage, sondern werde immer stärker als Sicherheitsproblem gesehen, sagt der Fachmann für Fragen der Reaktorsicherheit. Immer mehr Menschen auch in Frankreich würden erkennen, dass der Super-GAU, die Kernschmelze, von den Vertretern der Atompolitik schlichtweg für unmöglich erklärt werde, und dass, obwohl es mehrfach solche Kernschmelzen gab. Die Bodenplatte der Reaktoren in Fessenheim zu verstärken, verzögere nur den Durchbruch ins Grundwasser um 24 Stunden – aufzuhalten sei ein schmelzender Kern nicht; das Grundwasser werde auf jeden Fall kontaminiert.

So tief wird die Verschmutzung nicht reichen, die ein kleiner Junge bei dem Protestmarsch hinterlässt. "Pinkel‘ ruhig gegen den Zaun", sagt seine Mutter, "das ist ein gutes Zeichen."


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